In der Pandemie wurde Teilhabe an der Gesellschaft zum großen Thema. Wie es um die Chancen und Möglichkeiten darauf steht, wenn man psychische Krankheiten hat, ist in Österreich, wie in vielen anderen Ländern, vor allem auch eine Geldfrage. Das liegt nicht am Coronavirus, sondern ist eine lange bestehende Ungerechtigkeit.
Ungleiche Verteilung psychischer Erkrankungen
Eine 2017 von der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie der Meduni Wien veröffentlichte Studie (PDF) untersuchte dazu österreichweit eine repräsentative Stichprobe von rund 1000 Personen.
22,7 % hatten im Jahr vor der Studie eine psychische Erkrankung. Die Daten wurden nach fünf „Sozialschichten“ ausgewertet, hier der Anteil dieser Schichten, der im Jahr vor der Erhebung eine psychische Krankheit hatte:
13 % der Oberschicht hatten im letzten Jahr eine psychische Erkrankung. In den beiden Mittelschichten steigt der Wert auf zwischen 18 % und 19 %. Aber für die beiden Unterschichten verdoppelt sich der Wert nochmals auf 37 % bis 38 %. Mehr als ein Drittel der Menschen, die zur Unterschicht gerechnet werden, hatten im letzten Jahr eine psychische Erkrankung.
Zwei weitere Ergebnisse dürften damit in Zusammenhang stehen. Es wurde auch untersucht, ob Menschen finanzielle Sorgen haben. Während nur 19 % der Menschen ohne finanzielle Sorgen eine psychische Erkrankung hatten, betraf es 40 % der Menschen mit finanziellen Sorgen. Doppelt soviel.
Ein weiterer auffälliger Faktor war die Versorgung eines lange erkrankten Familienmitgliedes. 30 % aller Menschen, die sich um langfristig erkrankte Familienmitglieder kümmern, waren erkrankt, gegenüber 21 % unter allen Menschen, die dies nicht taten.
Wer schon einmal echte finanzielle Sorgen hatte weiß, wie sich das anfühlt und kann sich wohl vorstellen, dass man das nicht auf Dauer aushält, zumindest noch, ohne dass es Spuren hinterlässt. Gleiches gilt für die Pflege von Kranken zu Hause. Das ist eine unglaublich anspruchsvolle und ausbrennende Tätigkeit.
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Depressionen
Neben psychischen Erkrankungen allgemein gibt es auch zu spezifischen Krankheitsbildern Daten. Zur wahrscheinlich bekanntesten psychischen Erkrankung, der Depression, wurde 2019 vom Sozialministerium eine Zusammenschau wissenschaftlichen Arbeiten erstellt, der Depressionsbericht.
Darin wird deutlich, dass es klare Zusammenhänge zwischen dem Auftreten depressiver Erkrankungen und sozioökonomischen Faktoren gibt: Menschen mit geringer formaler Bildung, geringerem Haushaltseinkommen, Arbeitslosigkeit, dauerhafter Arbeitsunfähigkeit, aber auch Migrationshintergrund weisen häufiger eine Depressionsdiagnose auf.
Ungleicher Zugang zu medizinischer Versorgung
Aber nicht nur die Erkrankungen sind ungleich verteilt, sondern auch der Zugang zur Diagnose und Behandlung. Genau jene Gruppen, in denen psychische Krankheiten am häufigsten vorkommen, haben am wenigsten Zugang zu medizinischer Versorgung.
In einem Strategiepapier der österreichischen Sozialversicherung zu psychischer Gesundheit aus dem Jahr 2012 heißt es dazu, dass sicher mehr Menschen Psychotherapie brauchen, als dies von der Krankenkasse finanziert wird. Diese Situation plant man zu verbessern, indem die Sachleistungsplatzzuteilung entsprechend der Situation gezielt gesteuert wird.
Es gibt viel zu wenige Psychiater:innen und Psychotherapeut:innen mit Kassenvertrag, sodass diese oft keine Plätze für Patient:innen haben und oft auch nicht gerade ums Eck sind. Honorare für Psychotherapie liegen zwischen 70 und 150 Euro, pro Sitzung. Für Therapie ohne Kassenvertrag kann man zwar einen Kostenzuschuss beantragen. Nur beträgt der bei der Österreichischen Gesundheitskasse leider nur 31,50 Euro pro Stunde (Stand 01/23). Selbst bei den günstigsten Honoraren macht der Zuschuss nicht einmal die Hälfte aus.
Und so braucht es niemand überraschen, dass die Studie der Meduni Wien zeigt, dass nur 18 % der Menschen mit psychischen Erkrankungen im letzten Jahr Kontakt mit Psychiater:innen hatten. Also den Fachärzt:innen für die Krankheiten, die sie haben. Die meisten Menschen gehen zu Allgemeinmediziner:innen. Diese können Psychopharmaka verschreiben, und ihre Diagnose reicht als Voraussetzung für einen Kassenplatz für Psychotherapie.
Angesichts des geringen Angebots an Psychiater:innen ist das auch verständlich und viel besser als gar keine Behandlung zu bekommen. Aber wer würde für Diagnose und Therapie anderer schwerer Krankheiten nur ein, zweimal zu von Allgemeinmediziner:innen angeschaut werden wollen? Mit einem Tumor geht man doch lieber zu Onkolog:innen, mit Zahnschmerzen zu Zahnärzt:innen etc. Wie absurd wäre es, wenn nur 18 % der Menschen mit Augenkrankheiten zu Augenärzt:innen gingen?
Die einzigen Leute, für die die systematische Unterversorgung mit Psychiater:innen und Psychotherapeut:innen kein Problem ist, sind jene, die genug Geld haben, um zu Wahlärzt:innen und Therapeut:innen ohne Kassenvertrag zu gehen.
Tabu und Stigma
Es gibt lange tradierte Vorurteile und Falschinformationen über psychisch kranke Menschen, wie z. B. depressiven Menschen zu sagen, sie sollen sich zusammenreißen oder Yoga machen. Menschen mit Angststörungen zu sagen, sie müssten nur ins kalte Wasser springen oder meditieren. Menschen mit Substanzabhängigkeit wird dann Willensschwäche unterstellt. Niemand würde einer Person mit akutem Nierenversagen sagen, sie müsse sich einfach zusammenreißen, oder einer mit einem gebrochenen Bein, dass sie einfach nur ins kalte Wasser springen müsse.
Diese absurden Vorstellungen werden durch die Tabuisierung von psychischen Erkrankungen und die Stigmatisierung der Erkrankten begünstigt. Aufklärung wird so erschwert und die stigmatisierten Menschen werden daran gehindert, für sich selbst einzustehen, wenn es sonst schon niemand tut.
Die Stigmatisierung psychischer Krankheiten führt wohl dazu, dass politische Parteien nicht übertrieben gerne darüber reden, auch deshalb, weil es gerade wegen des Stigmas sehr, sehr wenig Leute politische Karriere machen, die aus eigener Erfahrung über psychische Krankheiten reden könnten.
Selbstverständlich muss man nicht selbst krank sein, um das Thema wichtig zu finden, aber ohne Menschen mit persönlichen Erfahrungen ist jedes Thema schwierig zu verstehen und einzuschätzen, insbesondere ein so komplexes wie psychische Erkrankungen mit ihren zahllosen Erscheinungsformen und Auswirkungen.
Eine bessere Zukunft?
Im Regierungsabkommen von ÖVP und Grünen heißt es, dass es bis 2024 einen substanziellen stufenweisen bedarfsorientierten Ausbau der Sachleistungsversorgung im Bereich der psychischen Gesundheit geben soll, mit dem Ziel der Bedarfsdeckung.
Wenn es darum geht, Leid zu verringern und Menschen nachhaltig zu helfen, dann müssen wir als Gesellschaft Menschen mit psychischen Erkrankungen ermöglichen, unabhängig von ihrem Einkommen und ihrer Herkunft, ihrer Netzwerke und ihrer sozialen Schicht, Ärzt:innen und Therapeut:innen ihres Vertrauens zu finden.
Die meisten psychischen Krankheiten lassen sich nicht einfach mit Anschauen diagnostizieren. Man kann keine Depression am Röntgen sehen, es gibt keinen Bluttest auf Angststörung. Und gleichzeitig benötigt Therapie Vertrauen.
Das soll die Rolle von Psychopharmaka nicht herunterspielen. Sie sind extrem wichtig und helfen sehr vielen Menschen. Aber sehr viele Menschen bräuchten auch Psychotherapie. Und die gelingt am ehesten in einer vertrauensvollen Umgebung, in der man sich ernst genommen und autonom fühlt. Erst bitten und betteln zu müssen, bevor einem die Krankenkasse eine, von vornherein limitierte, Anzahl an Sitzungen mit einer Person, die man im Problemfall schwer wechseln kann, zuteilt.
Die Forderung nach Psychotherapie auf Krankenschein ist mehr als berechtigt, braucht aber grundsätzliche Verbesserung der Rahmenbedingungen, inklusive flächendeckender Versorgung mit Fachärzt:innen. Nur ein paar Zuschüsse erhöhen reicht nicht, und so bleiben gerade jene Menschen von kompetenter Hilfe ausgeschlossen, die sie am häufigsten bräuchten.
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