„Outet“ man sich als psychisch krank? Gibt es 2023 wirklich noch ein Stigma gegen psychisch erkrankte Menschen? Ist Mental Health nicht allgegenwärtig, bekennen sich nicht ständig alle zur enormen Bedeutung des Themas?
Vor ungefähr 10 Jahren schrieb ich zum ersten Mal öffentlich darüber Depressionen zu haben. In meinem ersten Blog, Feuerhaken.org, und in einer Zeitschrift der ÖH Uni Graz. Der Grund dafür war mehr als nur ein wenig fragwürdig, und ich kann meinen Gedankengang im Rückblick auch nicht mehr wirklich nachvollziehen.
Ich wollte eine besondere Studentin von meinem emotionalen und intellektuellen Tiefgang überzeugen, damit beeindrucken. Das hat, völlig überraschend, nicht funktioniert. Aber dafür bekam ich viele andere Rückmeldungen. Eine davon ist mir besonders in Erinnerung geblieben.
Sie kam von einem Kollegen, mit dem ich nicht viel zu tun und sicher noch nie über das Thema gesprochen hatte. Es war eine sehr deutliche, fast dankende Anerkennung dafür, so mutig zu sein, das Tabu zu brechen. Das hat mich damals verwundert und gefreut, aber ich habe die Nachricht dann später, wie die ganze Sache an sich, geistig archiviert, d. h. vergessen.
Jahre später beging der Kollege Suizid. Seither muss ich regelmäßig an seine Nachricht denken. Nicht, weil ich plötzlich eine tiefere Bedeutung oder Botschaft darin entdeckte. Es ist, was es ist. Was mich beschäftigt ist, neben dem Schock über den Suizid, den ich auch heute, Jahre später, noch spüre, die Außenperspektive.
Hätte man unbeteiligten Beobachter:innen in den Jahren nach meinem Depressionsartikel die Aufgabe gestellt, uns beide zu beobachten und vorherzusagen, wer Suizid begehen würde, ich hätte diese Abstimmung mit überwältigender Mehrheit „gewonnen“.
Ich verliere immer wieder Kontrolle über meine Depressionen und Ängste, erreiche einen hohen Grad an Selbstsabotage, Rückzugs- und Fluchtreflexen, und bin oft sozial eingeschränkt. Beim Kollegen war das nicht in dem Ausmaß der Fall, für unbeteiligte Dritte musste er glücklicher, zufriedener, erfolgreicher und in jeder Hinsicht stabiler wirken.
Dann beging er Suizid. Nicht ich. Warum brodelt solch eine Verzweiflung so tief drinnen? Warum ist die Schwere der Krankheit nicht angemessen sichtbar?
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Kostenlose und anonyme Angebote im DACH-Raum. Für dich da, um darüber zu reden. Worüber? Alles, was dich belastet, bewegt, bedrückt. In Krisensituationen, oder wenn du grad mal wieder in einer Negativspirale feststeckst. Immer, wenn du es brauchst. Denn manchmal sieht man einen Ausweg erst, wenn man mit jemand anders über die Sachen spricht.
»Die Idee, dass mir Yoga oder Meditation besser helfen könnten, als langjährige fachärztliche Therapie, ist eine Beleidigung für die Schwere meiner chronischen Krankheit.«
Mental Health als Marke und die Fürsorge für psychisch erkrankte Menschen sind komplett unterschiedliche Dinge. Bei der allgegenwärtigen Marke Mental Health geht es um die Wahrung oder Wiederherstellung der kapitalistisch verwertbaren Leistungsfähigkeit, nicht um den Menschen an sich.
Mehr noch. Vieles, das unter dieser Marke läuft, ist hart an der Grenze zur Wirkungslosigkeit oder sogar Scharlatanerie. Die Idee, dass mir Yoga oder Meditation besser helfen könnten, als langjährige fachärztliche Therapie, ist eine Beleidigung für die Schwere meiner chronischen Krankheit. Unentspannt oder unglücklich zu sein allein ist noch keine psychische Erkrankung. Yoga ist keine Psychotherapie. Meditation ist kein Antidepressivum.
Es gibt kein Tabu sich mit der Marke Mental HealthTM zu beschäftigen, also zur kapitalistischen Verwertbarkeit eines Lebens beizutragen. Aber das hat nichts mit Hilfe und Unterstützung für psychisch Erkrankte zu tun.
Stigma
Psychisch erkrankte Menschen sind je nach Schweregrad ihrer Erkrankung stigmatisiert. Burn-out ist fast schon toleriert, schließlich „erwirbt“ man sich diese Erkrankung, zumindest im landläufigen Verständnis, durch zu harte Arbeit. Angststörungen und Depressionen sind, je nach Schweregrad, eingeschränkt akzeptiert bis stark stigmatisiert. Aber es gibt da noch den Elefanten im Raum. Die Menschen, über die bei diesem Thema oft auffällig wenig gesprochen wird – jene Menschen, die an (schweren) Psychosen leiden.
Ich weiß nicht, wie es ist, an einer Psychose zu leiden. Psychosen sind nicht nur schwere Erkrankungen mit hohem Leidensdruck und wenig Erfolg versprechenden Behandlungsmöglichkeiten, sie sind auch massiv stigmatisiert. Auch unter Menschen, die sich ehrlich für psychisch Erkrankte einsetzen wollen, auch unter psychisch Erkrankten.
Das wird nicht zuletzt daran liegen, dass viele schwere Fälle den Kontakt zur gemeinsamen Realität verlieren können, dass sie oft soziale Normen und Konventionen auf unverständliche Weise brechen, dass sie dadurch oft unberechenbar wirken und einem Angst machen.
»Es gibt so gut wie keine Hilfe für Menschen, bei denen keine Aussicht besteht, dass sie jemals eine gewinnbringende Humanressource sein werden.«
Vor ein paar Jahren sah ich auf Social Media, wie eine linke Aktivistin, die sich immer deutlich gegen die Diskriminierung psychisch Erkrankter aussprechen würde, mit einem offensichtlich schwer psychisch kranken Mann konfrontiert wurde. Ich kenne die Situation nur aus ihrer Nachbetrachtung, aber der Mann hat offensichtlich sexistische, beleidigende, und aggressiv klingende Kommentare hinterlassen und Nachrichten geschickt.
Sie hat den Mann letztlich öffentlich attackiert und ist zur Polizei gegangen. Sie hat sich gegen jemand, der objektiv gesehen (sozial, finanziell, politisch) schwächer ist als sie, aber bedrohlich wirkte, gewehrt.
Ich wüsste nicht, was sie anders hätte machen können. Es gibt keine Hilfsstellen, an die sie sich hätte wenden können. Niemand, der eingreift, außer Polizei und Amtsärzt:innen, die höchstens eine Zwangseinweisung vornehmen können, wenn Gefahr im Verzug ist, aber niemand helfen. Wer glaubt, ich würde ihr Scheinheiligkeit vorwerfen oder sie für ihre Reaktion kritisieren, irrt also. Was soll sie denn tun, wenn sie aggressiv sexistisch attackiert wird, ununterbrochen? Das still hinnehmen? Was macht das mit ihr, mit ihrer psychischen Gesundheit, wenn sie sich nicht einmal wehren kann? Die Situation, in der es nur Verlierer:innen und keine gute Lösung gibt, hätte überhaupt nie entstehen dürfen, kann aber uns allen passieren, das ist der Punkt.
Es gibt nahezu keine Hilfe für Menschen, bei denen keine Aussicht besteht, dass sie jemals eine gewinnbringende Humanressource sein werden. Es gibt sehr wenig Einrichtungen, die den schwerst Erkrankten langfristig helfen können. Die Erforschung dieser, nach wie vor nicht wirklich verstandenen, Erkrankungen wird zu wenig gefördert. Selbst bei den deutlich weiter verbreiteten und weniger tabuisierten Depressionen stellte sich unlängst heraus, dass wir vielleicht gar nicht wissen, warum die häufigsten Antidepressiva, Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, wirken. Die zugrundeliegende Theorie steht nun auf wackeligen Beinen, was nichts an der Wirksamkeit der Medikamente an sich ändert, aber zeigt, wie wenig die Psychiatrie als Wissenschaft ihr Fachgebiet erschlossen hat.
Die Psyche ist ein unbekanntes Land, in dem selbst die Expert:innen nur selten genau wissen, was warum passiert. Das macht die Behandlung psychisch Erkrankter extrem aufwendig, weil jeder Fall ein individuelles Rätsel ist und die verschriftlichten Diagnosen maximal Hilfestellungen, oder überhaupt nur administrativ notwendig, aber therapeutisch wertlos, sind.
Die hässliche Wahrheit ist, dass es keine guten Nachrichten gibt. Psychisch Kranke outen sich auch 2023, wenn sie offen über ihre Erkrankung sprechen, mit allen möglichen negativen Konsequenzen. Es gibt massive Stigmen gegen alle psychisch erkrankte Menschen. Und Mental HealthTM ist nur als Marke allgegenwärtig, die dem Kapital dient, aber sicher nicht den Menschen.
Die hässliche Wahrheit ist, dass es noch immer sehr schlecht ausschaut, für uns.
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